Drei Blinde beschreiben einen Elefanten. Obwohl sie noch nie einen Elefanten in seiner ganzen Größe haben sehen können (sie sind seit Geburt blind), fühlen sie sich doch berufen, ein fachmännisches Urteil über einen Elefanten abzugeben. Denn alle drei hatten schon die Möglichkeit, in der Nähe eines Elefanten zu sein und ihn zu berühren und zu betasten.
Der erste, der nur den Rüssel untersucht hat, ist ganz sicher, dass der Elefant sich so ähnlich wie eine Schlange verhält. Der Zweite, der die lapprigen, großen Ohren untersucht hat, weiß genau, dass der Elefant so ähnlich wie ein hängender Teppich ist. Und der Dritte, der ein Elefantenbein umklammert hat, findet an diesem Bein eine große Ähnlichkeit mit einer Säule, die er auch schon einmal umklammert hat.
So ist sich jeder seiner Meinung ganz sicher und total überrascht, dass die anderen, blinden Kollegen zu ganz anderen Meinungen kommen konnten. Es kommt zum Streit, weil keiner die Meinung der anderen akzeptieren kann, weil er doch mit seinen eigenen Händen den Elefanten erforschen konnte.
An Hand dieses einfachen Beispiels wird ein Grundphänomen komplexer Situationen klar. Dadurch, dass man nur Teile des Problems sieht oder versteht, kann es zu widersprüchlichen Aussagen kommen und trotzdem hat jeder - zumindest in seinem engen Horizont - recht.
So verunsichernd diese Erkenntnis ist, so hat sie auch etwas Tröstliches. Es gibt eben keine einzige Wahrheit, solange wir nur Teile eines Größeren sehen. Man muß daher mit scheinbaren Widersprüchen leben können. Oder positiv ausgedrückt, man kann Widersprüche akzeptieren und hat trotzdem recht.
Vielen Menschen fällt dieses Erkennen von Komplexität aber schwer. Sie können sich nur eine Wahrheit vorstellen, für die sie sich dann auch fanatisch einsetzen. Solche Menschen versagen im Umgang mit Komplexität leichter als andere, die vielfältige Meinungen zulassen und akzeptieren können.
Kritisch wird das Fehlen von Sensibilität für Komplexität für Menschen, die permanent komplexe Probleme lösen müssen, wie Politiker und Wirtschaftsführer. Ihr Versagen kann unendlichen Schaden anrichten. Leider ist die Geschichte - auch die jüngste - voll mit Negativbeispielen dazu. Man braucht nur an den Faschismus oder Nationalsozialismus zu denken.
So haben dann auch die Forschungsarbeiten zur Entstehung des Faschismus viele interessante Ergebnisse gebracht, die jedem, der Probleme der Praxis - die fast immer komplex sind - zu lösen hat, dienlich sein werden.
2013
Dr. Otto Buchegger Tübingen
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